„Tag der deutschen Einheit“ – ein Glücksfall der Geschichte

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Junge Sinfonie Kaarst e.V. unter Leitung von Christian Dellacher; Foto: (c) Klaus Stevens
Junge Sinfonie Kaarst e.V. unter Leitung von Christian Dellacher; Foto: (c) Klaus Stevens
Frau Professor Dr. Claudia Weber; Foto: (c) Klaus Stevens
Frau Professor Dr. Claudia Weber; Foto: (c) Klaus Stevens

„Wir kehren aus der Corona-Zeit zurück und freuen uns auf die erste gemeinsame Veranstaltung im Rathaus Kaarst“. Mit diesen Worten begrüßte die Kaarster Bürgermeinsterin Uschi Baum die Gäste, die zahlreich zum Festakt anlässlich des 3. Oktobers erschienen waren. Sie stellte die Musikschule Mark Koll und die Junge Sinfonie Kaarst e.V. vor, die sich zuvor bereits unter Leitung von Christian Dellinger mit einem grandiosen Auftakt zu den Klängen von Pink Floyd in die Herzen der Anwesenden gespielt hatten. Bemerkenswert auch der Sänger Jonas Kopp mit seiner Version von „Another Brick in the Wall“.
Sodann kam Uschi Baum auf die veränderte Rolle Deutschlands angesichts der aktuellen politischen Herausforderungen zu sprechen und wie sich die Veränderungen auf das deutsch-russische Verhältnis auswirken und warum im Osten und Westen von Deutschland ein oftmals unterschiedlicher Blick auf Russland existiert. Der Angriff Russlands auf die Ukraine sei auch ein Angriff auf die westliche Welt und unsere europäische Ordnung gewesen und ein „Ende des Kalten Krieges“ müssten wir seit dem 24. Februar leider vergessen. Ein radikales Umdenken sei erforderlich. Zur Kaarster Situation erläuterte sie, dass momentan rund 500 ukrainische Menschen hier leben und es sei nur eine Frage der Zeit, bis auch Menschen aus Russland kämen, die bei uns Schutz suchten. Sie aber lebe in Kaarst mit der Erfahrung und Gewissheit, dass man hier in schwierigen Zeiten zusammenstehe. Für ihre Formulierung des „Wir schaffen das“ bekam sie Zustimmung und großen Applaus.
Zur Einordnung der politischen Verhältnisse habe man zum Tag der Deutschen Einheit eine hervorragende Referentin eingeladen. Gemeint war die Historikerin Dr. Claudia Weber, Professorin und Lehrstuhlinhaberin für Europäische Zeitgeschichte an der Viadrina in Frankfurt/Oder. Claudia Weber begleitet das deutsch-russische Verhältnis seit vielen Jahren aus wissenschaftlicher Perspektive. Um die Gegenwart zu verstehen, müsse man sich zuerst der Vergangenheit zuwenden, so die Historikerin. Und sie spannte in ihrem Vortrag den Bogen sehr weit: Vom Beginn des 20. Jahrhunderts mit zwei Weltkriegen über das Ende des Kalten Krieges bis zum russischen Angriff auf die Ukraine. Damit habe Russland der Ukraine den Krieg erklärt und führe ihn nun auch auf medialer und wirtschaftlicher Ebene, so dass sich jetzt auch die Vergangenheit im Anblick des Prismas der Gegenwart ändere. Wichtig sei im 20. Jahrhundert neben dem Blick auf die deutsche Wiedervereinigung und die deutsch-russischen Beziehungen viel früher schon der Blick auf Lenin, der 1917 im Züricher Exil von der Abdankung des Zaren Nikolaus II erfährt. Lenin muss die Gunst der Stunde nutzen und zurück nach Russland. Das dauerhafte Bestehen des russischen Kaiserreichs sei eine Fehleinschätzung der Deutschen gewesen. Das deutsche Kaiserreich und die Bolschewiki vertraten danach eine komplett andere Ideologie, arbeiteten später aber zusammen. Schauten wir auf die Geschichte, so hätten wir stets mit einer sehr komplexen und widersprüchlichen Zusammenarbeit zu tun und die Ambivalenz der deutsch-russischen Verhältnisse sei stets ein Teil unserer Geschichte gewesen. Die Regierungszeit von Michail Gorbatschow habe dann eine bemerkenswerte positive Veränderung in den deutsch-russischen Beziehungen gebracht und die 90-er Jahre waren eine hoffnungsvolle Ära mit gelebter Verbindung aus Demokratie, Wohlstand und Ordnung. Aber für die Ostler sei es eine Zerfallsgeschichte gewesen und ein abrupter Systemumsturz. Jetzt lebten wir in einer Zeit der Ungewissheit, die jedoch die Kraft der Gestaltung berge. Demokratie sei kein Selbstläufer, aber der Wille zur Demokratie entfalte oft eine enorme Wirkungskraft.
Nach diesem sehr interessanten Vortrag sang man gemeinam die Nationalhyme und zum Ende des offiziellen Teils auch die Europahymne, bevor es weiterging zum Empfang in der Rathausgalerie. (bh)


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