Stolperstein-Verlegung in Büttgen: Ein würdiges Gedenken

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Nach jüdischer Tradition wurden von den Bürgern und Bürgerinnen viele Erinnerungssteine um den Stolperstein herum gelegt; Foto: Birgit Hannemann
Nach jüdischer Tradition wurden von den Bürgern und Bürgerinnen viele Erinnerungssteine um den Stolperstein herum gelegt; Foto: Birgit Hannemann


Schüler der Gesamtschule Kaarst-Büttgen suchten nach den Spuren des jüdischen Arztes Dr. Winfried Selbiger


Natürlich wurde die Veranstaltung, an deren Zustandekommen so viele Menschen beteiligt waren, von Bürgermeisterin Ursula Baum eröffnet und es waren trotz der frühen Tageszeit zahlreiche Kaarster und Kaarsterinnen aus allen Ortsteilen gekommen sowie auch Politiker aus den Nachbarstädten, um dem jüdischen Arzt Dr. Winfried Selbiger ihre Ehre zu erweisen. „Der Stein, der heute verlegt wird, ist eine Erinnerung, aber nicht nur das. Er ist auch ein Zeichen, dass so etwas wie dieser Nazi-Terror auch mit unserer Stadt verbunden war. Und besonders für uns Deutsche sei dieses Erinnern schmerzhaft. Erinnerung aber schaffe Identität, ohne Erinnerungskultur komme keine Gesellschaft aus. Der Stolperstein solle gleichzeitig erinnern und ermahnen, dass so etwas nie wieder passieren darf“, so der Appell von Uschi Baum.
Zu den Initiatoren dieser bisher in Kaarst einmaligen Aktion gehören zwei Lehrer der Gesamtschule in Büttgen, Nadine Graber und der Religionslehrer Carl-Wilhelm Bienefeld, die gemeinsam eine Arbeitsgemeinschaft zum Thema „Jüdische Geschichte in Deutschland“ gründeten und Schüler und Schülerinnen aus der Theorie heraus holten, um Geschichte besser greifbar und begreifbar zu machen. Nadine Graber hatte zuvor vage von einem jüdischen Arzt in Büttgen erfahren. Bei der Recherche und späteren Auseinandersetzung mit dem Leben von Dr. Selbiger, der 1906 in der Nähe von Weimar geboren wurde, in München studierte, dort auch 1930 seinen Doktortitel erwarb und später in Büttgen am heutigen Rathausplatz 15 seine Praxis hatte, wurde schnell klar, dass fachliche Unterstützung gut täte. Und so nahm man den Kontakt mit zwei Experten auf und band Sven Woelke, Archivar bei der Stadt Kaarst und Reinhold Mohr, Historiker und Heimatforscher, in das Projekt mit ein. Sven Woelke fand bald die Heiratsurkunde von Dr. Winfried Selbiger mit Gertrud Schanzleh, einer Düsseldorferin. Auch Reinhold Mohr konnte weitere Details hinzufügen, denn er hatte sich schon seit Jahren mit dem Schicksal des jüdischen Arztes befasst und bereits im Jahr 2020 einen Vortrag auf dem Tuppenhof dazu gehalten. Dr. Selbiger praktizierte von 1932 bis 1933 als Hausarzt in Büttgen, ehe ihn die Nationalsozialisten zunächst in Schutzhaft nahmen und dann mit einem Berufsverbot belegten. Die Recherchen ergaben, dass es Büttgener Bürger waren, die ihn denunzierten und ihn damit der Gestapo auslieferten. Selbiger musste auswandern, entschied sich für Tansania und arbeitete dort mehrere Jahre als Missionsarzt. Er kehrte zwar 1954 wieder nach Deutschland zurück, aber sein Leben war zerstört, er fand nie wieder zu alter Kraft zurück und verstarb 1961, die genauen Umstände sind bis heute ungeklärt. Reinhold Mohr hat die Ergebnisse seiner Forschungen in einem Text zusammengefasst: „Verfolgt, vertrieben, ausgewandert, zurückgekehrt und gescheitert“. Das tragische Schicksal des jüdischen Arztes Dr. Seliger erscheint in Kürze in Buchform.
Aufmerksamkeit und Unterstützung fand das Projekt auch durch die St. Sebastianus-Schützenbruderschaft, deren Brudermeister Franz-Josef Bienefeld in seiner Ansprache sagte, dass „wir das Geschehene nicht mehr ändern können, aber dass wir gemeinsam die Vergangenheit analysieren und Geschichte erlebbar machen können“, was durch das große Engagement der Schüler und Schülerinnen der Gesamtschule Büttgen sichtbar geworden sei. Unsagbare Schikanen hätten zu Selbigers Schicksal und vielen anderen jüdischen Schicksalen geführt, deren Dimension oft über unser Vorstellungsvermögen hinausgehe.
Der Religionslehrer Carl-Wilhelm Bienefeld ermutigte die Anwesenden, ihre mitgebrachten Steine um den Stolperstein herum zu legen, denn es sei ja eine jüdische Tradition, Steine der Erinnerung auf Grabstellen zu hinterlassen. „Das Leid geschah in unserer Nachbarschaft und Dr. Selbiger ist mit dieser Aktion wieder zurück und Teil unseres Lebens“. Danach richtete er sehr persönliche Worte an Dr. Selbiger und bat ihn um Vergebung, „weil wir sein Leben zum Scheitern gebracht haben und geschwiegen haben“.
Daniel Wienold, Schulleiter der Städtischen Gesamtschule, schloss sich an und sagte, „wir sind hier, um jemandem die Ehre zu erweisen, dem großes Unrecht geschehen ist“. Aber es erfülle ihn mit Stolz, dass es Schüler und Schülerinnen der Städtischen Gesamtschule waren, die den Anstoß gaben und den Stein ins Rollen brachten. Mit diesen Worten übergab er die Regie an Gunter Demnig. Der Künstler, der sich zuvor ins „Goldene Buch“ der Stadt Kaarst eingetragen hatte, verlegte dann den Stein mit dem glänzenden Messingschild auf dem Bürgersteig genau dort vor dem Haus, wo Dr. Winfried Selbiger damals praktiziert hatte. Der Künstler Demnig gilt als Erfinder der Stolpersteine, die er seit 1996 zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus verlegt, bisher in rund 30 Ländern Europas. Im Mai 2023 erwartet man den 100.000sten Stein. Damit ist sein Stolperstein-Projekt für die Opfer der Nazi-Diktatur das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Er zitierte seine Aktion mit Worten aus dem Talmud, dass ein Mensch erst dann vergessen sei, wenn sein Name vergessen sei. Und genau das wird nun mit Dr. Selbiger nicht passieren.
Bevor das Orchester der Gesamtschule das Friedenslied „Shalom aleichem“ anstimmte, sprachen Schüler und Schülerinnen ihre Hoffnungen aus, sich bei z.B. religiösen und kulturellen Unterschieden nicht hinreißen zu lassen zu Hass und Diskrimierung. Dem schloss sich Bürgermeisterin Ursula Baum an mit einem Aufruf an die Bürger, auch weiterhin alle geflüchteten Menschen in Kaarst gut aufzunehmen. Sie bedankte sich bei allen, die zum Gelingen dieser Veranstaltung und zu einem würdigen Gedenken beigetragen hätten. Der Künstler Gunter Demnig zeigte sich angesichts der Beteiligung von rund 300 Menschen höchst beeindruckt von dem großen Interesse der Kaarster Bürgerschaft, die er aus anderen Städten in dem Maße bisher so nicht gewohnt war. (bh)


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